2.2  AM NÄCHSTEN MORGEN


Ich hatte nicht sonderlich viel geschlafen und wurde auch noch früh wach. Die anderen Passagiere in meinem Abteil der zweiten Klasse schliefen noch oder dösten vor sich hin. Doch ich dachte daran, dass ich in der Nacht auf zauberhafte Weise ein Mädchen kennen gelernt hatte, und obwohl ich noch etwas verwirrt war von allem, fühlte ich mich wunderbar.


Es wurde mir auf einmal immer wichtiger, dass die Mutter von Ayse einen guten Eindruck von mir bekommen sollte. Ich versuchte daher, trotz der widrigen Umstände eines Abteils zweiter Klasse, mir ein sauberes und adrettes Äußeres zu schaffen. Nachdem mir dies leidlich gelungen schien, machte ich mich auf den Weg zu dem Abteil, indem ich Ayse hatte verschwinden sehen.


Ja, sagte ich mir, die Mutter wird dich sicherlich kritisch unter die Lupe nehmen und von dem Ergebnis der Prüfung wird dann alles abhängen. Doch die Dinge entwickelten sich zunächst etwas anders als gedacht. Ich konnte beide freundlich begrüßen, die Mutter - eine kleine und etwas mollige Dame mit schwarzen Löckchen um das runde Gesicht - wollte aber anscheinend keine große Notiz von mir nehmen. Ayse versuchte dies damit zu entschuldigen, dass die Mutter im Augenblick leider recht böse Kopfschmerzen hätte und es recht ungünstig für eine Unterhaltung wäre.


Da kam mir ein wunderbarer Gedanke und ich eilte zurück in mein Abteil zu meinen alten, zerbeulten Lederkoffer. Daraus kramte ich meine Reiseapotheke hervor und eilte zu den beiden zurück. Ein bewährtes Mittelchen gegen Kopfweh kam zum Einsatz.


Diese gute Tat sollte nicht ohne Folgen bleiben, denn es dauerte nicht lange und die Mutter fühlte sich befreit vom quälenden Kopfweh und überschwänglich dankte sie mir und schaute mich ganz herzlich mit leuchtenden Augen an.


An diesem und auch am darauf folgenden Tag waren saßen wir oft zusammen, während indessen dieses Jugoslawien immer noch an den Fenstern vorbeizog und ich fand es auf einmal wunderschön.


Auch die kürzeren Etappen durch Bulgarien und Griechenland verflogen wie im Flug und bald schon erreichten wir die türkische Grenzstation - Edirne. Der Zug legte dort einen kurzen Aufenthalt ein und es bot sich uns die Gelegenheit, gefahrlos die Fenster zu öffnen und den Zug für kurze Zeit verlassen zu können.


Man muss wissen, dass man bei türkischer Lokomotivkohle kein Fenster verfrüht öffnen konnte, denn die Lokomotive spie fortwährend pechschwarze Wolken aus und stach allzu Neugierige mit schwarzem Russ und Funkenhagel ins Gesicht. Mit schrillen Pfiffen wurde die Weiterfahrt des Zuges angekündigt und spätestens bei der Abfahrt wird es Zeit, die Fenster zu schließen.


Der Gipfel des Wohlwollens war schließlich die Einladung der Mutter, doch zwei Tage mit ihr und der Tochter in Istanbul zu verbringen, um von der Fülle der Sehenswürdigkeiten wenigstens ein paar gesehen zu haben.


Obwohl ich noch recht unerfahren war, vor allem im Umgang mit jungen Damen, schien mir das Glück in jenen Tagen hold zu sein.



2.3  DAS MUSS ICH NOCH ERZÄHLEN


.....Ich glaube, jetzt erreichen wir Istanbul! rief Ayse und zog mich mit an einen freien Fensterplatz im Gang des Zuges.


Nun war es endlich soweit oder sollte ich darüber traurig sein, dass die Zeit so schnell davonlief? Es war der dritte Tag gegen frühen Abend im August 1970 und die Vorstellung, die sich uns bot, war so großartig, dass kein Reisender sich das entgehen ließ: Die Einfahrt nach Istanbul.


Für mich war alles schlechthin überwältigend! Die Sterne fielen vom Himmel auf die Erde und rechts von mir stand das Mädchen. Sie musste sich leicht an mich drängen, weil nun alle Passagiere an den Fenstern waren.


Die Weltstadt Istanbul kam mit Licht und Lärm herrlich auf uns zu. Ein unglaubliches Schauspiel, dazu erscholl das Pfeifen und Tönen der alten Dampflok vorne an der Spitze.


Dann im Bahnhof: Ein schrilles Durcheinanderrufen war auf dem Bahnsteig und Menschen rannten aufgeregt umher. Ich verstand erst nicht, was sie riefen, aber dann sah ich, dass allenthalben Melonen, Gebäck und Tee zu den Abteilfenstern hinaufgereicht wurde, als sei der Zug nach einer langen Wüstenfahrt in einer Oase angekommen.


Ich hatte tatsächlich am Ende meiner langen Reise die wundersame Stadt am Goldenen Horn erreicht - Istanbul.


Wir verließen zusammen den Zug, der nun einsam und verlassen am Bahnsteig zurückblieb. Im Strudel der Aussteigenden hatte ich Angst, von meinen beiden Begleiterinnen getrennt zu werden. Aber sie ließen mich zu meiner Erleichterung nicht aus den Augen.


Aus dem Bahnhof ging es hinaus in den nächtlichen Zauber der Weltstadt, mit dem Schauspiel eines übermütigen Lichts, mit ihrem Duft, flanierenden Menschen, Kaffees und Restaurants, Rufe herüber und hinüber,  und einem überwältigendem, chaotisch anmutenden Straßenverkehr dazu.


Ich mag mir heute gar nicht ausmalen, wie ich hätte ohne Hilfe zurechtfinden sollen. Aber in Ayses Augen spiegelten sich die Lichtpünktchen der Stadt und die energische Mutter strebte zielbewusst durch alte Gassen auf ein ihr anscheinend bekanntes Hotel zu.


Es war ein schlichtes Hotel, wo wir einkehrten. Aber nach drei Tagen Zugfahrt, waren mir heißes Wasser, eine funktionierende Dusche und ein richtiges Bett, höchst willkommen. Bevor ich schlafen ging, schob ich die Gardine beiseite und schaute noch durch das Fenster zum Innenhof. Es zeigte sich, dass eine Reihe von Zimmern des Hotels um diesen Innenhof gebaut waren, und am gegenüberliegenden Fenster eines Zimmers schauten Ayse und ihre Mutter zu mir herüber und beide winkten mir noch einen Gute-Nacht-Gruß zu. In dieser Nacht schlief ich wie ein wohl behüteter Prinz in einem Palast aus Tausendundeinenacht.


1970 CHAPTER 2

Hagia Sophia

STADT AM

GOLDENEN

HORN

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